Die Linken, die Rechten und die Volksgruppen
Wenn mich eine Person beleidigt, werde ich fordern, daß sie ihre verletzende Aussage aus der Welt schafft. Wenn sie dies nicht tut und wenn ich meine Selbstachtung nicht verlieren will, muß ich die Person aus der Welt schaffen. Entweder ich töte sie, oder ich schaffe sie auf zivilisierte Art aus meiner Welt: Ich beginne sie zu ignorieren.
Die österreichischen Volksgruppen müssen das österreichische Volk sehr beleidigen. Anders kann ich mir die Ignoranz, die Verachtung nicht erklären, die das österreichische Volk, sprich: die österreichische Öffentlichkeit den Volksgruppen entgegenbringt. Und ich meine damit die sogenannten Rechten genauso wie die sogenannten Linken.
Die Rechten wie die Linken verachten die nichtdeutschen Volksgruppen. Sie verachten sie aus verschiedenen Motiven, das Ergebnis ist fast das gleiche.
Die Rechten sagen: Die österreichische Staatssprache ist Deutsch. Von dieser Bestimmung kann es keine Ausnahmen geben. Jeder, der das akzeptiert, ist ein guter Österreicher. Die Rechten sagen: Die Volksgruppen sollen ihr Brauchtum pflegen. Sie sollen ihre Sprache in der Familie sprechen. In der Öffentlichkeit sollen sie deutsch sprechen.
Als oberster Grundsatz für den Umgang der Rechten mit den Volksgruppen könnte gelten: Es kann nicht rechtens sein, wenn sich ein Angehöriger der deutschsprechenden Mehrheit nach einem Angehörigen der Minderheit zu richten hat. Solange die Volksgruppe diesen Grundsatz nicht in Frage stellt, kann sie mit wohlwollender Duldung der Rechten rechnen. Tut sie es doch, wird sie sehr schnell zum Störfaktor im rechten Weltbild.
Die Rechten sagen: die Staatssprache Italiens ist italienisch. Von dieser Bestimmung soll es eine Ausnahme geben: In Südtirol soll die deutsche Sprache regionale Staatssprache sein. (Was die Rechten damit meinen: die Südtiroler sollen gar keine guten Italiener, sondern gute Österreicher sein.)
Die österreichischen Volksgruppen können diese gespaltene Haltung nur so interpretieren: den Rechten geht es nicht darum, daß sich alle nach der Staatssprache richten; den Rechten geht es darum, daß sich alle nach der deutschen Sprache richten. Die deutsche Sprache, die deutsche Kultur ist ihnen das Maß aller Dinge, jede andere Kultur ist für sie zweitklassig. Deswegen verachten die Rechten die Volksgruppen in Österreich.
Und nun zu den Linken. Die Linken verachten die Volksgruppen aus demselben Grund, aus dem sie Haider und seine Wähler verachten. Sie verachten sie, weil beide - die Rechten wie die Volksgruppen - ihre Identität aus ihrer ethnischen Herkunft ableiten. Familie, Dorf, Region, Volk, Heimat - das alles sind Begriffe, die für die Linken im besten Fall altmodisch und überholt sind, im schlimmsten Fall sind sie reaktionär und faschistisch.
Die Linken identifizieren sich über die soziale Klasse, über ihre Arbeit. Jeder, der dies nicht tut, hat in den Augen der Linken ein falsches Bewußtsein. Die Linken können weder ethnische noch religiöse Identität akzeptieren.
Warum dies so ist, darüber kann ich nur spekulieren: vielleicht, weil die Linken es nicht wahrhaben wollen, daß der Mensch seine Identität nicht wirklich verändern kann. Vielleicht deshalb, weil die Linken Heimat-los sind. Oder vielleicht deshalb, weil das Klassenbewußtsein aus dem Intellekt, das Nationalbewußtsein dagegen aus dem Gefühl erwächst. Politiker, die an das Nationalbewußtsein der Bevölkerung appellieren, appellieren in den Augen der Linken jedenfalls an die "niederen Instinkte" der Menschen. Und mit denen wollen sie nichts zu tun haben.
Eine Textpassage möge illustrieren, wie schwierig der Umgang mit Volksgruppen für einen Linken sein kann. Das im Vorjahr von einem privaten Personenkomitee auf dem Wiener Heldenplatz veranstaltete „Fest der Republik“ kommentierte der Chefredakteur des Falter, Armin Thurnherr, unter anderem so: "Der Aufmarsch der guten Menschen, Blasmusikgruppen und Volkstanzgruppen möge nicht jedermans Sache sein, aber es war gut, daß da ein paar Aufrechte die Mühe auf sich nahmen, und eine passable Feier auf dem Heldenplatz zusammenbrachten". Thurnherr begrüßt also einerseits die Teilnahme der Volksgruppen an der Republikfeier. Andrerseits mißfällt ihm die Art, wie sich die Volksgruppen bei dieser Feier dargestellt haben. Ihr Auftritt war ihm zu gestrig, zu ländlich, zu national und zu gefühlsduselig.
Ob die Linken es wahrhaben wollen oder nicht: Das Nationalgefühl oder, unverfänglicher formuliert, das Nationalbewußtsein existiert. Es existiert, weil es die Antwort ist auf ein menschliches Grundbedürfnis, das da lautet: Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit. Natürlich kann ich Geborgenheit auch in einer Religion oder in der Arbeiterbewegung finden - grundlegender ist aber allemal die Geborgenheit in der Sprache.
Die Sprache vermittelt die Welt am unmittelbarsten. Das Weltbild der Sprache entsteht vor dem Weltbild der Religion und vor dem politischen Weltbild. Die Sprache ist die primäre Trägerin der emotionalen Bindung an andere Menschen, und sie ist die Vermittlerin aller späteren Identifikationen. Kinder hören zuerst Kinderlieder und Gute-Nacht-Geschichten, erst später beten sie das "Vater unser" nach oder das "Kommunistische Manifest"; und auch dem "Vater unser" oder dem "Kommunistischen Manifest" begegnen sie in einer bestimmten Sprache.
Indem die Linken aber den Begriff "Heimat", der vielen Menschen Identität und Geborgenheit bietet, am liebsten abschaffen möchten, nehmen sie die Bedürfnisse dieser Menschen, und damit die Menschen selber, nicht ernst. Deswegen verachten die Linken auch die Volksgruppen.
Die österreichischen Volksgruppen verletzten das österreichische Volk permanent. Sie verletzen es durch ihre schiere Existenz. Sie verletzen es, weil sie sowohl die Rechten als auch die Linken an ihre inneren Widersprüche erinnern.
Der ideale Staat der Rechten ist ein ethnisch reiner Staat. Die Existenz anderer Nationen ist nach diesem Modell nur außerhalb der Staatsgrenzen denkbar. Deshalb sind möglichst hermetische Staatsgrenzen für die Identität eines ethnisch reinen Staates auch so wichtig, denn sie bestimmen: Wer drinnen ist, gehört dazu, wer draußen ist, gehört nicht dazu. Aus ebendiesem Grund ist auch die Existenz von Volksgruppen mit dem rechten Weltbild unvereinbar. Für die Rechten sind die Volksgruppen der ewige Stachel im deutschen Volkskörper.
Während manche Rechte mit dem Nationalgefühl Politik machen, es damit aber zumindest ernst nehmen, ignorieren die Linken dieses nationale Gefühl, dieses nationale Bewußtsein, überhaupt. Dies läßt darauf schließen, daß die Existenz von Volksgruppen das linke Weltbild noch fundamentaler in Frage stellt als das rechte. Und in der Tat: Während die Identität der Volksgruppen auf dem gleichen Prinzip basiert wie jene der Rechten, basiert die Identität der Linken auf einem konkurrierenden Prinzip.
Wenn mich eine Person beleidigt, und wenn sie ihre verletzende Aussage nicht zurücknimmt, werde ich die Person aus der Welt schaffen. Entweder ich töte sie oder ich beginne, sie zu ignorieren.
Das österreichische Volk versteht es perfekt, die Volksgruppen zu ignorieren. Manchen Österreichern genügt diese symbolische Art, Menschen aus der Welt zu schaffen, nicht. Sie haben am 4. Februar 1995 begonnen, die österreichischen Volksgruppen auch physisch aus der Welt zu schaffen.