Home is where my heart is
Hergovich. Mein Name ist Hergovich. Ich buchstabiere: Heinrich - Emil - Richard - Gustav - Otto - Viktor - Ida - Caesar - Heinrich. Geschrieben: Hergovich. Gesprochen: Hergowitsch. Es ist ein kroatischer Name.
Mein Vater stammte aus Trausdorf. Dort lebt auch der Großteil meiner Verwandten: Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Großonkel, Großtanten und deren Nachkommen. Viele von ihnen tragen meinen Namen, andere heißen Gollubits, Wukovits, Krajasich, Zemlyak, Eisner, Lichtenberger und Ehrlich.
Die meisten Menschen, die meinen Namen tragen, leben in Čakovec in Kroatien. Sie haben eine Schrift entwickelt, die es ihnen erspart, unseren Namen zu buchstabieren. Sie schreiben: Hergović.
Außer meinem Familiennamen trage ich auch einen Vornamen, oder - wie man kroatisch sagt - einen Taufnamen: Alfred. Es ist ein englischer Name. Ausgesucht hat ihn, der Familienlegende nach, mein älterer Bruder. Er trat kurz vor meiner Geburt in die Internatsschule in Eisenstadt ein und litt dort unter heftigem Heimweh. Der Mensch, der ihn in seinem Schmerz tröstete, war Seemann aus Sankt Pauli und hieß Freddy Quinn.
Wie jeder Name auf dieser Welt, so ist auch mein Name magisch. Er sagt mir, wo ich beginne und wo ich ende. Er gehört zu mir, und ich gehöre zu ihm.
Mein Familienname erinnert mich an meine Kindheit und an mein Dorf, Frakanava. Er erinnert mich an den tiefen Brunnen beim Fußballplatz, aus dem wir nach dem Spielen tranken; an ausgelassene Hochzeitsgesellschaften unter frisch gezimmerten Innenhoflauben; an piepsende Küken, in der Küche unter der Wärmelampe. Er erinnert mich auch an die Weidenrute des Volksschullehrers; an den alten Pfarrer, der richtete die Lebenden und die Toten; und an meinen Vater, der mir verbot, was das Dorf verboten hatte.
Mein Taufname erinnert mich an meine Jugend und an die Welt außerhalb meines Dorfes. Er erinnert mich an Hans Joachim Kulenkampff, Maxwell Smart und Neil Armstrong, den ersten Menschen auf dem Mond; an den Weißen Hai aus Hollywood; an Johnny Bjerregaard und seine Freistoßtore im Eisenstädter Lindenstadion; und an Nachmittage in der Universitätsbibliothek, umgeben von Zeitschriften aus Wien und Hamburg und Büchern aus Frankfurt und New York.
Natürlich hätte ich in Frakanava bleiben können. Ich hätte den Fernsehapparat nicht einschalten müssen, nicht ins Kino, nicht ins Gymnasium gehen müssen. Ich hätte in Frakanava bleiben können, und dort vor Fernweh vergehen können. Doch ich bin gegangen: fort aus meinem Dorf, und für viele Jahre auch fort aus meiner Sprache.
Fortgegangen sind auch meine Vorfahren. Sie gingen fort aus ihren Dörfern in Kroatien, fort aus ihren Familien, doch in ihren Herzen nahmen sie die Heimat mit. Die Dörfer, die sie in der Neuen Welt gründeten, nannten sie so wie die Dörfer, aus denen sie kamen: Stinjaki, Lipovac, Bošnjakov Brig. Jedesmal, wenn sie einander beim Namen nannten; jedesmal, wenn sie miteinander sprachen; jedesmal, wenn sie aneinander dachten, waren sie im Burgenland daheim.
Einer meiner Cousins, John, lebt in Toronto. Sein Vater - der Bruder meines Vaters - war 1928 nach Kanada ausgewandert und hatte dort eine Kroatin aus Unterpullendorf geheiratet. John ist 58 Jahre alt und spricht nur englisch. Seit gut 20 Jahren ist er mit einer Kroatin aus Klingenbach verheiratet, die anläßlich eines Studienaufenthaltes in den Vereinigten Staaten seine Familie in Toronto besuchte.
Ich kenne beide, John und Eva Hergovich. Alle drei bis vier Jahre kommen sie mit ihrer Tochter aus der Neuen in die Alte Welt, um Freunde und Verwandte in Trajštof, Dolnja Pulja und Klimpuh zu besuchen.
Meine Mutter stammt aus Bandol, dem Dorf der kroatischen Wallachen, offiziell: Weiden bei Rechnitz. In meiner Kindheit traf dort einmal im Jahr, und zwar am Kirtag, Mitte Mai, die ganze Verwandschaft meiner Mutter: die Sippe der Tallians, zusammen. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen: Tante Irma aus Debrecen, Tante Irmica aus Wiener Neustadt. Onkel Pišta kam aus Budapest, Onkel Geza aus Slavonski Brod, und meine Lieblingstante Anica - eigentlich meine Großtante - aus Bratislava.
Auch wir fuhren mit unserem neuen Auto in Bandol vor, und immer, wenn Tante Anica auch da war, war es sehr lustig. "Ča je novoga?" - "Was gibt es Neues?" pflegte ich sie beim Wiedersehen erwartungsvoll zu fragen. Sie machte dann jedesmal ein ganz erstauntes Gesicht, und fragte zurück: "Wieso? Ist das Alte nichts mehr wert?!"
Ich liebte ihre Redensarten, und an manche ihrer Aussprüche kann ich mich noch gut erinnern. Einmal habe ich sie gefragt, warum sie denn nach Bratislava gegangen und nicht in Bandol geblieben ist. "Znaš, moj dičak“, sagte sie darauf, und blickte mir fest in die Augen. "Weißt Du, mein Bub, das ist so: wenn Du nie fortgehst, kannst Du nie nach Hause kommen."
Ich bin heute in Sankt Margarethen zu Hause. Es ist ein reiches Dorf, mit einem Fußballplatz, vielen Pferden und einem großen Kindergarten. Sankt Margarethen ist ein deutsches Dorf, umgeben von drei kroatischen: Oslip, Siegendorf und Trausdorf.
Nach Sankt Margarethen zog ich natürlich nur wegen meiner Frau, einer Sankt Margarethnerin. Ihre Eltern schenkten uns ein Grundstück - hundert Prozent „deutsche Erde" - auf dem nun unser gemeinsames Haus steht.
Es ist sehr schön in meinem deutschen Haus. Am schönsten ist es, wenn mir mein kleiner Sohn beim Schlafengehen „Laku noć!“ ins Ohr flüstert. Oder wenn meine Frau, eine geborene Unger, ins Telefon brüllt: Hergovich! Ich heiße Hergovich! Heinrich - Emil - Richard - Gustav - Otto - Viktor - Ida - Caesar - Heinrich.